Donnerstag, 8. Mai 2008
Gruesse aus China (17) - Gedanken unterwegs
Gestern bin ich mit meiner Kamera durch ein einfaches Wohnviertel am Hafen gelatscht, habe schoene Aufnahmen gemacht und bin mir dabei doof vorgekommen. Tsingtao hat schliesslich eine fuer Touristen gedachte Strandpromenade, warum bin ich nicht dort geblieben und habe Delphinstatuen fotografiert, statt in den Lebens- und Arbeitsbereich der Einheimischen einzudringen und ihn durch den LCD-Sucher der Videokamera zu beglotzen? Man mag Touristengegenden verachten, aber sie erfuellen doch den sehr nuetzlichen Zweck, die Touristen irgendwo zu sammeln, wo sie keine echten Menschen nerven und gezielt geschroepft werden koennen. Gut, dass es in Berlin den Hackeschen Markt und aehnliche Einrichtungen gibt ...
Als Tourist freilich moechte man das "wirkliche Leben" mitkriegen, moechte eintauchen in das Land, das man besucht, moechte teilhaben. Als bliebe man nicht sowieso nur Zaungast und Zoobesucher, solange man nicht in einem Land lebt oder sich zumindest viel Zeit nimmt und die Sprache lernt.
Wenn dann noch der Umstand dazukommt, dass man viel, viel reicher ist, als die Leute, die man bestaunt, hat das schon was unangenehmes. Ja, ich komme mir bloed vor dabei. Und mach es trotzdem. Und geniesse es trotzdem.
Hier in China kommt noch ein weiterer Aspekt dazu: Immer wenn man eine aermliche, graue Gegend, zerschlissene Waesche an einer Waescheleine, ein Abrisshaus oder Aehnliches fotografiert, wird man sehr merkwuerdig angesehen. Wahrscheinlich wuerden die Leute einen gerne fragen, warum man ausgerechnet das fotografiere und nicht die schoenen Neubauten! Das sei mal wieder typisch fuer die Westler, dass sie nur die schlechten Seiten von China sehen wollten und nicht das Gute und die Fortschritte.
Selbst wenn sie mich das fragen und ich ihnen antworten koennte, wuesste ich nicht, wie ich ihnen erklaeren sollte, dass ich auch diese Seiten ... vielleicht nicht schoen, aber ... hm ... sympathisch ... liebenswert ... manchmal traurig, manchmal ein bisschen kurios aber ganz gewiss nicht verachtens- oder verlachenswert finde.

Bei unseren Lesungen las Rupprecht mehrmals eine Geschichte ueber Fussgaenger in Shanghai. Es ging um die Gefahren und Seltsamkeiten, denen man begegnet, wenn man als solcher unterwegs ist. Erzaehlt aus europaeischer Perspektive. Fuer mich war die Geschichte eine einzige Liebeserklaerung an Shanghai, an das Chaos und den Gleichmut, mit dem alle dort das Chaos meistern, ohne sich gegenseitig fertigzumachen und anzufeinden. Die Chinesen hingegen empfanden die Geschichte als beleidigend. Und zwar insbesondere, weil sie von einem Westeuropaeer stammte. Wo doch Westeuropa in den vergangenen Wochen schon soviel Unrat ueber China ausgekippt hat! In diesem Punkt sind sie tatsaechlich etwas heikel. Ausserdem scheint das Konzept der Ironie hier nicht den selben Stellenwert zu geniessen wie bei uns ...

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